Miteinander geht es leichter

Vor einigen Tagen fand ich eine Anfrage in meiner E-Mail-Box vor:
„Frage und Bitte an euch / dich: kannst du dir vorstellen, einen Erfahrungsbericht von deinem Weg zu und in OA kurz zusammengefasst zu schreiben?“ 

Als ich dieses E-Mail las, stellte sich ein seltsames Gefühl ein: Ich war unruhig. Doch weshalb bloß?
Jetzt weiß ich die Antwort: Ich bin noch immer wütend auf mich. Wütend, weil ich süchtig bin und mich beim Essen nicht kontrollieren kann. Ein Bissen Getreide genügt, und mein Gehirn rastet aus. Der Magen signalisiert mir kein Sättigungsgefühl. Erst wenn ich vor Müdigkeit zu keiner Aktivität mehr fähig bin, stoppe ich das Essen. Wie bei den AA der erste Schluck zum Verhängnis führt, so führt bei mir der erste Bissen Getreide zum verhängnisvoll maßlosen Essen. 

Als ich vor einem Jahr zu OA kam, war ich im Pensionsalter. Das Übergewicht belastete seit Jahren meine Gelenke, mein Blutzuckerwert war zu hoch, die Leber schmerzte, Wanderungen waren nicht mehr möglich. Die Natur fehlte mir so sehr. Bilder von Rollstühlen, Rollator, Krücken, gepflegt werden müssen…  Bilder von Machtlosigkeit tauchten auf. Ein einziger Schrecken. Die Zeit war reif für OA. 

In den ersten Monaten bei OA lernte ich die zwölf Schritte kennen und die hilfreichen OA-Werkzeuge. Ich besuchte jede Woche ein oder zwei Online-Meetings.
Im ersten Schritt des OA-Programmes geben wir zu, dass wir dem Essen gegenüber machtlos sind. Bei jeder Wortmeldung eines Mitglieds hoffte ich, dass das Thema der Machtlosigkeit nicht zur Sprache kommen würde. Den ersten Schritt zu lesen oder vom ersten Schritt zu hören, löste stets Stress aus – ich wurde unruhig. An einem besonders nervösen Tag geschah jedoch etwas Unerwartetes: 

Während eine Frau im Meeting ihre Erfahrung mit dem ersten Schritt teilte, wurde ich zunehmend nervöser. Ich war nahe daran, das Meeting zu verlassen, als ich tief berührt wurde. Mir rannen innerlich die Tränen herunter. Plötzlich hatte ich den Eindruck, dass sie von mir spricht, von meiner Wut, von meiner Trauer, von meiner Machtlosigkeit. Ich fühlte mich erkannt. Ja, das war ich. Ich musste mich nicht mehr verstecken, musste keine Stärke beweisen. Etwas Mildes und Sanftes bewegte sich in mir. Das war unendlich erleichternd. Damals habe ich mich dem ersten Schritt angenähert.

Seither ist ein weiteres halbes Jahr vergangen. Die Teilnahme an den Meetings ist mein wichtigstes Werkzeug geblieben. Hier begegne ich Menschen, die vor ähnlichen Schwierigkeiten stehen wie ich. Hier fühle ich mich nicht allein. Hier werde ich so angenommen wie ich bin. Hier übe ich mich darin, andere so anzunehmen wie sie sind. Und hier lerne ich, auch mich selbst so anzunehmen wie ich bin. 

Still und leise hat sich in den letzten Monaten einiges geändert. Unruhe taucht nur noch selten auf. Ich bin wieder im Kontakt mit Menschen, die ich jahrelang nicht gesehen habe und bei OA habe ich neue Freunde gefunden – das tut mir gut. Ich gehe täglich spazieren. Zum Essen setze ich mich jetzt meistens nieder, anstatt schnell im Stehen oder unterwegs zu essen. Ich koche mir wesentlich kleinere Portionen als früher. Mein festgefahrenes Übergewicht beginnt sich zu bewegen. 

Elly * (Name geändert)